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Wie lässt sich die Harmonie unter den Sprachen in der Schweiz erklären?

der Debatte “Schweiz – was nun? Mehrsprachigkeit und Zusammenhalt”

Landesmuseum Zürich, Schweiz
2 November 2021

Stéphane Dion
Botschafter von Kanada in Deutschland und Sondergesandter für die Europäische Union und Europa

Es ist auffallend, dass das politische Leben in der Schweiz als Föderation nicht grundsätzlich nach homogenen Sprachgruppen strukturiert ist, die jeweils eine fest verankerte Position einnehmen. Die Schweiz ist gewiss nicht immun gegen sprachliche Spannungen, es gibt hierzulande jedoch keine ernsthaften Konflikte. Die einzige Ausnahme von dieser sprachlichen Harmonie ist die Jura-Frage. Dennoch hat sich in der Schweiz als Ganzes kein Sprachenkonflikt entwickelt. Der Zusammenhalt im Land ist stark, und in keiner der Sprachgruppen hat sich eine regionenübergreifende sezessionistische Bewegung herausgebildet. In diesem Land gibt es weder ein Äquivalent für die Unabhängigkeitsbewegung im kanadischen Québec oder im spanischen Baskenland bzw. Katalonien, noch gibt es regionale Zentrifugalkräfte wie zum Beispiel jene, die das politische Leben in Belgien dominieren.

Im Gegensatz zu den Entwicklungen in Kanada, Spanien oder Belgien ist in der Schweiz keine bedeutende politische Partei auf einer regionalen und sprachlichen Grundlage organisiert. Die wichtigste Regionalpartei stellt die rechtspopulistische Partei Lega dei Ticinesi dar, die bei den Nationalratswahlen 2019, im Tessin 16,4 Prozent der Stimmen erlangt hat. Erwähnenswert ist außerdem die Genfer Bürgerbewegung. Die großen, im Bundesrat vertretenen, Parteien der Schweiz sind in allen drei Sprachregionen präsent und werben im ganzen Land um die Wähler, weshalb ihre Wahlstrategien nicht auf sprachliche Fragen ausgerichtet sind. Selbstverständlich sind auch manche Parteien in bestimmten Regionen fester verankert als in anderen, aber sie sind bestrebt, sich im ganzen Land zu etablieren. In der Schweiz findet sich keine solch starke Regionalpartei wie der Bloc québécois, der einst den Status der offiziellen Oppositionspartei im kanadischen Unterhaus erlangte und aktuell die zweitstärkste Oppositionspartei darstellt. Die Schweiz ist dem Schicksal Belgiens entkommen, das keine nationale Partei mehr hat, um in den beiden großen Sprachregionen des Landes – Flandern und Wallonien – Vertreter wählen lassen zu können.

Die Schweizer wissen jedoch sehr wohl, dass ihr Land nicht immer so harmonisch gewesen ist. Jahrhundertelang sah sich das Land heftigen religiösen Auseinandersetzungen gegenüber. Die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten führten in den Jahren 1531, 1656, 1712 und 1847 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Seit der Verfassung, die 1848 verabschiedet und in den Jahren 1874 und 1999 geändert wurde, herrscht in der Schweiz Religionsfrieden. Zu einer Lösung, religiöser Konflikte unter Christen, kam es jedoch auch in anderen Teilen Europas. Das Besondere an der Schweiz, als mehrsprachiges Land, ist die Tatsache, dass die Sprache nicht anstelle der Religion als Konfliktfaktor trat. Manche Denkströmungen mögen je nach Sprachgruppe mehr oder weniger verbreitet sein, aber das sind eher Tendenzen als klare Gegensätze.

Der Politikwissenschaftler Karl Deutsch bezeichnete die Schweiz als „paradigmatischen Fall politischer Integration“. Folglich müssen wir den glücklichen Fall der Schweiz erläutern.

Eine erste Erklärung ist der unbestreitbare Erfolg der Schweiz, insbesondere beim Lebensstandard, auch im Vergleich zu ihren Nachbarn. Die italienischsprachigen Schweizer haben wenig konkrete Anreize, nach Italien zu ziehen, die französischsprachigen Schweizer nach Frankreich oder die Deutschschweizer nach Deutschland. Im Gegenteil, sie haben gute Gründe, ihre gemeinsamen Leistungen zu schätzen.

Andere Erklärungen wurden vorgebracht. Der kanadische Soziologe Maurice Pinard beschrieb sie kürzlich in einem Buch mit dem Titel „Nationalist Movements Explained. Comparisons from Canada, Belgium, Spain, and Switzerland1 (deutsch: Nationalistische Bewegungen erklärt. Vergleiche aus Kanada, Belgien, Spanien und der Schweiz). Im Wesentlichen beschreibt er drei Erklärungen, die mir alle plausibel erscheinen, allerdings würde ich noch eine vierte hinzufügen, die von mir selbst stammt.

Erstens fiel, mit Ausnahme der italienischsprachigen Bevölkerung, die vorwiegend katholisch ist, die religiöse Spaltung nicht mit der sprachlichen Teilung zusammen. Die Schweizer, die Französisch, Rätoromanisch, Deutsch oder verschiedene Dialekte dieser Sprachen sprechen, sind Katholiken und Protestanten und konnten somit eine jahrelange Zusammenarbeit aufbauen, sogar zu Zeiten der religiösen Konflikte.

Zweitens hat die Schweiz eine außergewöhnliche sprachliche Stabilität erreicht. In den vergangenen fünf Jahrzehnten, von 1970 bis 2018, sieht man einen leichten Rückgang der Deutsch (von 66 auf 62 Prozent), der Italienisch (von 11 auf 8 Prozent) sowie der Rätoromanisch sprechenden Bevölkerung (von 0,8 auf 0,5 Prozent), während der Anteil der Frankophonen von 18 auf 23 Prozent gestiegen ist. Somit hat sich die Verteilung zwischen der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Bevölkerung im Laufe der Jahre kaum verändert, weder in der Schweiz insgesamt noch in den einzelnen Kantonen. Damit sind Befürchtungen betreffend Sprachkonflikten weniger ausgeprägt, was zum Aufbau von Vertrauensverhältnissen zwischen den verschiedenen Sprachgruppen beiträgt. Die frankophone Bevölkerung in Kanada hat nicht so viel Glück. Obwohl der Prozentsatz der Einwohner Québecs, die französisch verstehen und sprechen, inzwischen bei 95 Prozent liegt, ist im Laufe der Jahre der Anteil der Kanadier, deren Muttersprache französisch ist, gesunken, und zwar von 29 Prozent im Jahr 1951 auf 21 Prozent im Jahr 2016. Die frankophone Bevölkerung Kanadas ist einem unvergleichlichen Assimilationsdruck seitens der englischen Sprache ausgesetzt, der Weltsprache schlechthin, die in Nordamerika allgegenwärtig ist. Die Frankophonen befinden sich nicht in einer mehrsprachigen Umgebung wie in Europa, sondern fühlen sich isoliert auf diesem riesigen englischsprachigen Kontinent. Dieses Gefühl der Isolation führt dazu, dass in Québec die Stärkung des politischen Status der einzigen frankophonen Regierung in Amerika auf breite Unterstützung stößt. Dieses Gefühl der Isolation macht noch lange nicht die gesamte Bevölkerung Québecs zu Separatisten, – die große Mehrheit der Kanadier behauptet nämlich, sie sei stolz auf ihre Staatsangehörigkeit – es erklärt jedoch, warum die spezifischen Sorgen der Bevölkerung Québecs, das politische System Kanadas so wesentlich prägen.

Drittens ist der soziale und wirtschaftliche Lebensstandard der verschiedenen Sprachgruppen in der Schweiz, vor allem der beiden großen, die aus den Deutsch- und den Französischsprachigen bestehen, praktisch identisch. Dies ist inzwischen auch in Kanada der Fall, wo die katholischen Frankophonen dank der Säkularisierung und einer besseren Bildung im Wesentlichen den Wohlstand der Anglophonen erreicht haben, die Mentalitäten jedoch immer noch durch historische Konflikte geprägt sind.

Es gibt drei Faktoren, die die sprachliche Harmonie unter den Schweizern begünstigt haben: eine lange Geschichte der Zusammenarbeit, die Stabilität der Verhältnisse zwischen den Sprachen sowie ähnliche ökonomische Verhältnisse. Ich schlage einen vierten Faktor vor, den ich 1995 als (noch junger) Professor der Politikwissenschaften in einem Text mit dem Titel „Belgique et Canada : une comparaison de leur chance de survie2 (deutsch: Belgien und Kanada: Ein Vergleich ihrer Überlebenschancen) dargelegt habe, nämlich, dass es keinen sprachlich isolierten Teilstaat gibt.

Die Schweiz besteht aus siebzehn vorwiegend deutschsprachigen Kantonen, vier frankophonen, einem italienischsprachigen, drei als zweisprachig anerkannten und einem dreisprachigen Kanton. Streng demographisch gesehen überwiegt der deutschsprachige Anteil (der Deutsch oder Schweizerdeutsch als Hauptsprache angibt); dieser macht ca. 62 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus, im Vergleich zu ungefähr 23 Prozent Französisch-, 8 Prozent Italienisch- und 0,5 Prozent Rätoromanischsprachigen. Aber mit drei offiziellen Sprachen, vier Landessprachen, sechsundzwanzig Kantonen, dreitausend Gemeinden, die mehr Zuständigkeiten haben als jede andere Gemeindeebene der Welt, der weltweit kollegialsten Bundesexekutive und einer Vielzahl von Abstimmungen, die hier häufiger durchgeführt werden als in allen anderen Demokratien zusammen, verfügt die Schweiz als Föderation über zahlreiche Akteure und Bündnisse, die je nach anstehendem Thema variieren. Auf diese Weise vermeidet man, dass eine einheitliche deutschsprachige Mehrheit dem Rest des Landes gegenübersteht und dass die sprachliche Teilung zur Haupttrennlinie im politischen Leben und im Parteiensystem wird. Anstelle eines Landes, in dem sprachliche Differenzen immer entscheidend sind, ist die Schweiz eher eine Föderation mit unterschiedlichen Trennlinien: unterschiedliche wirtschaftliche Grundlagen, Stadt-Land-Unterschiede, Unterschiede zwischen den Generationen.

In einer föderativen Union mit zwei oder drei Sprachgruppen ist es besser, wenn sich keine dieser Gruppen in einem einzigen Teilstaat befindet. Wenn jede Sprachgruppe auf verschiedene Teilstaaten verteilt ist, werden Koalitionen innerhalb der Union entlang Trennlinien, die nicht notwendigerweise sprachlicher Natur sind, je nach anstehendem Thema gebildet und aufgelöst. Die sprachlichen und kulturellen Trennlinien nehmen dann eine viel relativere Bedeutung an. Der „Mythos des Opfers“ der isolierten, benachteiligten und missverstandenen Sprachgemeinschaft kann in einem solchen Kontext nur schwer Fuß fassen. Das ist das besondere Glück der Schweiz.

Kanada ist eine dezentralisierte Föderation bestehend aus zehn Provinzen und drei Territorien. In der bevölkerungsreichsten Provinz, Ontario, die gleichzeitig auch eine der wohlhabendsten ist, leben 39 Prozent der Bevölkerung. Sie hat daher keine Monopolstellung. Dieses Gleichgewicht fördert die Stabilität in der Union. Ein historisches Vermächtnis ist jedoch die sprachliche Isolation Québecs, denn obwohl es auch anderswo in Kanada Frankophone gibt (z. B. die Akadier), ist Québec doch die einzige ausschließlich französischsprachige Provinz. Wenn andere Provinzen wie Neubraunschweig, Manitoba oder Alberta mehrheitlich französischsprachig wären, wäre die kanadische Union mit ziemlicher Sicherheit genauso robust wie die Schweizer Union geworden.

In diesem Zusammenspiel von zehn Provinzen gewinnt Québec oft durch Bündnisse mal mit der anderen großen industriellen Provinz des Landes – Ontario –, mal mit Provinzen, die wie Québec weniger wohlhabend als der nationale Durchschnitt sind und nach mehr regionaler Umverteilung verlangen, und mal mit den Provinzen des Westens, die wie Québec einen internationalen freien Handel befürworten. Was jedoch die Sprache, die Kultur und die Identität betrifft, steht Québec allein da. Gäbe es eine frankophone Provinz, die reicher als der nationale Durchschnitt ist, über wenig Industrie verfügt oder Öl produziert, würde sich Québec bei wirtschaftlichen, ökologischen oder sozialen Herausforderungen trotzdem auch mit anglophonen Provinzen verbünden und nicht immer nur mit dieser frankophonen Provinz. Nicht nur das Gefühl der Isolation wäre verringert, sondern auch die relative Bedeutung von Sprach- und Identitätsfragen würde offensichtlich werden. Die Geschichte lässt sich jedoch nicht neu schreiben: Die sprachliche und kulturelle Einzigartigkeit Québecs ist ein Merkmal der kanadischen Union und muss von dieser berücksichtigt werden, wie es im Übrigen der Oberste Gerichtshof, das Parlament und die Regierung von Kanada erkannt haben.

Die Sprachfrage schafft also in der Schweiz und in Kanada unterschiedliche Herausforderungen, das Ziel ist jedoch gleich: Es gilt zu beweisen, dass sprachliche Vielfalt eine Stärke eines Landes sein kann und dass, wenn sich mehrsprachige Bevölkerungen zusammenschließen, Länder entstehen können, die zu den wohlhabendsten Staaten gehören. In der Liste der besten Länder der Welt 2020 von U.S. News rangieren die Schweiz und Kanada auf den vordersten Plätzen. Zweifellos ist die Mehrsprachigkeit, unserer beiden Länder, ein Grund für unseren Erfolg und eine der Voraussetzungen für eine noch bessere Zukunft.

1 Maurice Pinard, „Nationalist Movements Explained. Comparisons from Canada, Belgium, Spain,

and Switzerland“, Routledge: 2020. Auch : Also : Nenad Stojanović, Multilingual Democracy: Switzerland and Beyond, ECPR Press, 2021; Sean Mueller, “The Politics of Compromise: Institutions and Actors of Power-Sharing in Switzerland”, in Federalism and Internal Conflicts book series, 2020.

2 Stéphane Dion, „Belgique et Canada : une comparaison de leur chance de survie“, In: Serge

Jaumain (Hrsg.), La réforme de l’État… et après? L’impact des débats institutionnels en Belgique et au Canada, herausgebracht von der Université de Bruxelles: 1997, S. 131-59.

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