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Die globalen Auswirkungen von Putins Krieg

Rede anlässlich des jährlichen deutsch-amerikanischen Treffens der IJP (Internationale Journalisten-Programme)

18. März 2022

Stéphane Dion
Botschafter von Kanada in Deutschland und Sondergesandter des Premierministers Justin Trudeau für die Europäische Union und Europa

Sehr geehrter Herr Dr. Freiling,

Meine Damen und Herren,

Chers amis du Canada,

Dank der Internationalen Journalisten-Programme habe ich auch in diesem Jahr die Ehre und die Verantwortung, vor einer Gruppe junger Journalisten zu sprechen, die sich für die transatlantischen Beziehungen zwischen Deutschland, Kanada und den Vereinigten Staaten interessieren.

Diese Verantwortung, die mir obliegt, ist in diesem Jahr umso größer. Ich wende mich an Sie, weil wir alle empört sind, entsetzt über einen ungerechtfertigten Krieg, der durch die Entscheidung eines einzigen Mannes ausgelöst wurde. Es war Präsident Wladimir Putin, der diesen Krieg wollte, der den Krieg gewählt hat. Deshalb müssen wir ihn beim Namen nennen: Putins Krieg.

Die Größe des russischen Volkes, seine ehrenvolle Leistung, besteht darin, dass es seine Invasoren zurückgedrängt und sie zum Wohle der gesamten Menschheit außer Gefecht gesetzt hat.

Das ist das Russland, das wir alle bewundern und das keine Schande über sich bringen darf, indem es in ein Nachbarland einmarschiert, dessen Bevölkerung nur ein Drittel so groß ist wie die Russlands und das nur ein Achtel so viel Waffen besitzt wie sein Nachbar.

Somit möchten wir für die Ukraine, für die gesamte Menschheit und für die Ehre Russlands Ronald Reagans Satz vor der Berliner Mauer paraphrasieren und gemeinsam verkünden:

President Putin, stop this war.

Arrêtez cette guerre.

Stoppen Sie diesen Krieg.

Um sein eigenes Land von der Notwendigkeit dieser brutalen Invasion zu überzeugen und den Tod Tausender russischer Soldaten zu rechtfertigen, muss Putin die Russen einer intensiven Propaganda aussetzen, von der Zensur Gebrauch machen und Desinformationen verbreiten. Die Duma hat ein Gesetz verabschiedet, das Journalisten zu 15 Jahren Haft verurteilt, wenn sie etwas anderes als die offizielle Version berichten. Ihren russischen Kollegen, die ihre Freiheit, wenn nicht gar ihr Leben riskieren, wenn sie es wagen, die Wahrheit zu sagen, erteilt Putin einen Maulkorb.

Wie bei allen Kriegen verlieren auch bei diesem Tausende ihr Leben – Männer, Frauen und Kinder –, ganze Stadtteile werden zerstört, Energienetze, lebenswichtige Verkehrsinfrastrukturen und zivile Einrichtungen werden vernichtet und Millionen von schutzbedürftigen und desorientierten Menschen werden gezwungen zu fliehen. Dieser Krieg gefährdet die Souveränität, ja das Überleben eines mutigen Landes, dessen Widerstand Bewunderung verdient.

Eine ständige Krisenkoordinierung zwischen unseren Ländern ist unerlässlich, um umfassende humanitäre Hilfe in der Ukraine zu leisten und den massiven Zustrom von Millionen von Vertriebenen zu bewältigen, die aus der Ukraine geflohen sind. Länder wie Polen und Moldau haben ihre Aufnahmekapazität für Flüchtlinge überschritten und haben um Medikamente, medizinische und andere Hilfsgüter gebeten, darunter Lebensmittel, Treibstoff, Stromgeneratoren sowie Zelte. Wie Deutschland und andere Länder hilft auch Kanada den Flüchtlingen aus der Ukraine, nach Kanada zu kommen, um Polen und die Nachbarländer, die die Hauptlast dieser Flüchtlingswelle zu tragen haben, zu entlasten.

Dies sind die unmittelbaren Opfer, die unmittelbaren Folgen von Putins Krieg, seiner schamlosen Missachtung des Völkerrechts und des menschlichen Lebens. Darüber hinaus ist als Schneeballeffekt die gesamte Menschheit Opfer von Putins Kriegshandlung. Ich werde mich bei meinen weiteren Ausführungen darauf konzentrieren, mit Ihnen einige der gravierendsten globalen Auswirkungen dieses Krieges zu besprechen.

Zunächst müssen wir auf eine potenzielle Gefahr hinweisen: das Risiko einer nuklearen Verwüstung. Präsident Putin hat die russischen Atomstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft versetzt und uns vor Augen führt, dass die weltweit führende Atommacht über genügend Sprengkraft verfügt, um einen globalen nuklearen Winter auszulösen. Die atomare Strahlung, die möglicherweise von den auf das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja abgefeuerten Raketen ausgegangen ist, verdeutlicht, wie ein lokaler Krieg mit den heutigen Technologien weltweit katastrophale Auswirkungen haben kann.

Putins Krieg hat schwerwiegende konkrete Folgen für die Weltwirtschaft. Der breit angelegte Einmarsch in die Ukraine wird sich auf die Nahrungsmittelversorgung in anderen Regionen der Welt auswirken und zu einem erheblichen Anstieg der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Weizen und Mais führen. Da auf die Ukraine und Russland zusammen mehr als ein Drittel der weltweiten Getreideexporte entfallen, sind nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) durch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine weltweit zusätzlich 8-13 Millionen Menschen von Hunger bedroht. In der Sahelzone beispielsweise gab es bereits zu wenig Regen, während die Lage im Jemen und im Nahen Osten besorgniserregend ist, da 70 % des Getreides dieser Region aus der Ukraine stammen. Unsere Länder werden zusammenarbeiten müssen, um die Gefahr einer Hungersnot abzuwenden und der durch Putins Krieg verursachten Nahrungsmittelknappheit entgegenzuwirken.

Durch ein entschlossenes, gemeinsames Vorgehen haben wir zusammen mit allen unseren Verbündeten die härtesten Sanktionen eingeführt, die jemals gegen eine große Volkswirtschaft verhängt worden sind, um Putins Regime weiter vom globalen Handelssystem zu isolieren. Der Krieg, die Sanktionen, die notwendig sind, um Putin zur Rechenschaft zu ziehen, und die daraus resultierende Unsicherheit haben jedoch schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft in vielen Ländern und das globale Wachstum im Allgemeinen. Insbesondere die steigenden Energiekosten werden sich auf alle Bereiche auswirken, von den Lebensmittelpreisen bis hin zu den Kosten für Trinkwasser – eine Herausforderung für die Verbraucher, insbesondere in den Entwicklungsländern.

Eine weitere tragische Folge dieses Krieges ist die Tatsache, dass unsere NATO-Länder gezwungen sind, ihre Militärausgaben zu erhöhen. Unsere Regierungen würden als unverantwortlich angeprangert, wenn sie nicht zusätzliche Mittel zu ihrer eigenen Verteidigung und zu der ihrer Verbündeten einsetzen würden. Aus den neuesten verfügbaren Daten (2020) geht hervor, dass sich die weltweiten Militärausgaben nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute auf insgesamt 1981 Milliarden US-Dollar belaufen. Das ist dreimal so viel wie die gesamten globalen klimabezogenen Primärinvestitionen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Anpassung daran, die sich laut der „Global Landscape of Climate Finance“ der Climate Policy Initiative in den Jahren 2019/2020 auf 632 Milliarden US-Dollar beliefen. Die Tatsache, dass die Menschheit dreimal so viel Geld ausgibt, um sich vor sich selbst zu schützen, wie sie es tut, um sich vor der Klimakrise zu schützen, ist eine Katastrophe, die durch Putins Krieg nur noch verstärkt wird.

Unsere Länder haben an der Ostflanke zusätzliche Streitkräfte stationiert und ihre Operationen ausgeweitet. Bundeskanzler Scholz kündigte an, 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr bereitzustellen. Damit könnte Deutschland bei den Verteidigungsausgaben im weltweiten Vergleich von Platz sieben auf Platz drei hinter den Vereinigten Staaten und China vorrücken. Tatsächlich haben mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union verkündet, ihre Verteidigungsausgaben erhöhen zu wollen. Die kanadische Verteidigungsministerin Anita Anand erklärte, dass Kanada in Kürze einen umfangreichen Ausgabenplan zur Modernisierung der kontinentalen Verteidigung im Rahmen von NORAD vorlegen wird. Im US-Kongress wächst der Konsens für eine massive Erhöhung der Militärausgaben, um auf die veränderte Sicherheitslandschaft zu reagieren.

Diese wichtigen verteidigungs- und sicherheitsbezogenen Ankündigungen werden erhebliche Auswirkungen auf die Haushaltspolitik haben, und dies zu einer Zeit, in der die Staatshaushalte der Länder durch die Anstrengungen zur Bewältigung der Corona-Krise in den letzten beiden Jahren und durch den Wirtschaftsabschwung infolge der Pandemie in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Diese zusätzlichen Haushaltsbelastungen entstehen zu einer Zeit, in der unsere Länder massiv in die Energiewende investieren müssen, um ihre Volkswirtschaften zu dekarbonisieren und ihre ehrgeizigen Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen zu erreichen. Es sind mühsame Haushaltsverhandlungen zu erwarten, bei denen militärische, finanzielle und energiepolitische Fragen miteinander verflochten sind.

Die Aggression Russlands gegen die Ukraine verdeutlicht neben den wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten von Energiefragen auch ihre sicherheitspolitische Dimension. Angesichts dieser Aggression ist die Europäische Union davon überzeugt, sich aus der Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen aus diesem Petro-Staat zu befreien. Ihr wichtigster Energielieferant ist zu einer Belastung für die internationale Sicherheit geworden. Die Aussetzung des Zertifizierungsverfahrens für Nordstream 2 durch Deutschland ist zusammen mit der Entscheidung, zwei Terminals für die Einfuhr von Flüssiggas zu bauen, die symbolische Geste für dieses Bestreben.

Aufgrund der Abhängigkeit von russischem Gas von durchschnittlich 40 % auf dem gesamten europäischen Kontinent und von bis zu 100 % in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern, während die Gaspreise bereits Rekordhöhen erreichen, wird die Abkopplung von Russland im Energiebereich jedoch nicht über Nacht erfolgen. Die Europäische Kommission hat die Aufgabe, einen Plan auszuarbeiten, um die Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen bis Ende 2022 um zwei Drittel zu verringern und bis 2027 zu beenden. „Das ist machbar“, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in den kommenden Wochen diesbezüglich konkrete Vorschläge vorlegen muss.

Der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, prognostizierte, dass Deutschland bis zum kommenden Herbst keine russische Kohle und bis Ende 2022 kein Öl mehr aus Russland benötigen werde. Er räumte jedoch auch ein, dass die Abhängigkeit von russischen Gasimporten eine kompliziertere Situation darstellt. Derzeit importiert Deutschland etwa 55 % seines Erdgases, 50 % seiner Kohle und 35 % seines Erdöls aus Russland.

Die Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Verzicht auf russisches Gas in einigen Ländern nicht zu einer Rückkehr zur Kohle, dem klimaschädlichsten Energieträger, und auch nicht zu einer Verlangsamung des in Deutschland für 2030 geplanten Kohleausstiegs führt. Die EU beabsichtigt, die Entwicklung erneuerbarer Energien und sauberen Wasserstoffs zu beschleunigen, was heute nicht nur als ökologische Notwendigkeit, sondern auch als strategischer Vorteil und sicherheitspolitisches Anliegen gilt.

Wir sehen also, wie Energie-, Klima- und Handelsfragen geostrategische Auswirkungen haben, die durch Putins Krieg deutlich werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, unsere wirtschaftlichen, kommerziellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Demokratien und zuverlässigen Partnern zu stärken. Als Verfechter der Hochtechnologie und Lieferant wichtiger Ressourcen will Kanada seinen Teil dazu beitragen und eine führende Rolle spielen, wie Premierminister Justin Trudeau und die kanadischen Ministerinnen Chrystia Freeland und Mélanie Joly bei ihrem jüngsten Besuch in Berlin bekräftigten. Kanada ist in der Lage, einen Überschuss an sauberer, erneuerbarer Energie zu exportieren, der den USA und den europäischen Ländern nicht nur dabei helfen kann, ihre Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen zu erreichen, sondern auch ihre Energieversorgung zu diversifizieren, um weniger abhängig von Energieeinfuhren aus Russland zu werden.

Zur Stärkung unserer Handelsbeziehungen können wir auf CETA, das hervorragende Handelsabkommen zwischen Kanada und der EU zählen, das vom Deutschen Bundestag ratifiziert werden sollte, nachdem die vorläufige Anwendung vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform anerkannt wurde.

Eine weitere internationale Konsequenz aus Putins Krieg ist die Notwendigkeit, unseren Kampf gegen Desinformation zu verstärken, die darauf abzielt, unsere Demokratien zu untergraben. Zu diesem Zweck kündigte Premierminister Trudeau an, erneut in das von Kanada geleitete Abwehrsystem „Rapid Response Mechanism“ der G7-Staaten zu investieren, dessen Ziel es ist, gegen die G7-Demokratien gerichtete Bedrohungen durch Desinformation zu erkennen, abzuwehren und darauf zu reagieren.

Zum Schluss möchte ich noch auf eine letzte perverse Auswirkung von Putins Krieg zu sprechen kommen: Das Vertrauen in den Dialog und die Diplomatie als Mittel zur Konfliktverhütung wird damit erschüttert. Es bleibt zu hoffen, dass die laufenden Verhandlungen über ein Atomabkommen mit dem Iran von Erfolg gekrönt sein werden, damit die Welt wieder etwas Vertrauen in die Fähigkeiten der Diplomatie gewinnt.

Ich könnte auch die Lähmung des Arktischen Rates anführen, die Schwächung der Zusammenarbeit im Weltraum ... Dieser Krieg ist in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe. Das hat die Welt wirklich nicht gebraucht.

Anfang dieses Jahres hat die deutsche Regierung ihre Prioritäten für den G7-Vorsitz 2022 verkündet. All diese Prioritäten entsprechen zweifellos dringenden globalen Bedürfnissen:

In einer idealen Welt würden wir ausschließlich solche Ziele verfolgen. Wir werden sie auch auf diesem G7-Gipfel mit Entschlossenheit und der größtmöglichen Koordinierung anstreben, daran besteht kein Zweifel. Putins Krieg zeigt jedoch, wie weit die Welt von diesem Ideal entfernt ist, und damit die Demokratien weiterhin solche universellen Ziele verfolgen können, müssen sie sich vor dem Schlimmsten schützen.

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